„Wir alle müssen uns von einem Journalismus verabschieden, der aus zwei Werten bestand: Qualität und Unabhängigkeit.“ (www.medienwoche.ch) Drohender Verlust, das ist ein bekanntes Phänomen, steigert die Wertschätzung. Was droht hier verloren zu gehen? Der Qualitätsjournalismus, Journalismus überhaupt, die kritische Öffentlichkeit insgesamt? Die Papiertaschentücher, die dem Journalismus hinter her winken – „Ist das Journalismus oder kann das weg?“ (Bernd Ulrich); „ich möchte mich verabschieden vom Journalismus“ (Hans Hoff) – sind tränennass.
Öffentlichkeit bildet sich durch Mitteilungen an alle, durch allgemein zugängliche Texte, Bilder, Töne und deren Rezeption. Wie eine Mitteilung noch keine Kommunikation, so macht die öffentliche Mitteilung noch keine Öffentlichkeit. Das Verstehen der Adressaten muss dazu kommen, ohne Publikum keine Öffentlichkeit. Was veröffentlicht wurde, kann gewusst werden, erlebt worden sein. Das Merkmal der öffentlichen Mitteilung, sich im Prinzip an alle zu richten, macht die Quantität des erreichten Publikums zu einem wichtigen Kriterium. Eine Veröffentlichung, der nur sehr wenige ihrer potentiellen Adressaten Aufmerksamkeit schenken, wirkt defizitär, sie ist unter ihren Erwartungen geblieben. Aufmerksamkeit zu gewinnen, ist die große Hürde, die jede Veröffentlichung überwinden muss.
Das Besondere der modernen Öffentlichkeit tritt hervor, wenn der – sehr grobe – Vergleich zu einer stratifizierten mittelalterlichen Gesellschaft gezogen wird: Öffentliche Mitteilungen zu machen ist hier der Spitze vorbehalten, in der Macht, Recht, Wahrheit und Besitz kumulieren und so Herrschaft etablieren. In einer funktional differenzierten modernen Gesellschaft findet die öffentliche Kommunikation unter völlig anderen Bedingungen statt. Die gesellschaftlichen Funktionen sind entkoppelt, die Gesellschaft ist ohne Herrschaftszentrum, weil die Funktionsfelder auseinander treten. Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft etc. folgen ihren je eigenen Logiken. Die Öffentlichkeit wird zu einem eigenen Funktionssystem. Die politisch Mächtigen denken an ihre Macht, die Wirtschaft will mehr Haben, die Wissenschaft interessiert nur die Wahrheit, die Juristen nur das Recht, die Religion wird zur Privatangelegenheit: wer sieht sich noch für das große Ganze verantwortlich?
Wenn jeder Funktionsbereich zuerst an sich denkt, wenn alle Akteure verstrickt sind in den Eigensinn ihres Teilbereichs, wer behält dann das Allgemeine im Auge, wer hat noch den Überblick? Die Politik glauben manche, aber große Erwartungen richten sich auch an das Funktionsfeld Öffentlichkeit im Sinne gesamtgesellschaftlicher Verantwortung und Kontrolle. Der Öffentlichkeit wird der Status der kollektiven Vernunft zugeschrieben und dem Journalismus die ehrenvolle Aufgabe zugedacht, sie zu praktizieren.
Darüber wird gelegentlich vergessen, dass die öffentliche Kommunikation nicht mehr aus dem Himmel der Herrschaft fällt, sondern dass die praktischen Voraussetzungen zu publizieren jetzt organisiert werden müssen. Wie auf den anderen Funktionsfeldern – wo zum Beispiel Parteien als politische Organisationen entstehen, Unternehmen als wirtschaftliche, Gerichte als rechtliche, Universitäten als wissenschaftliche – bilden sich auch Organisationen, Verlage und Sender, Agenturen und Studios, für öffentliche Kommunikation. Bei allen Unterschieden haben Organisationen eines gemeinsam: sie müssen zahlungsfähig bleiben, sonst verschwinden sie. Deshalb kann für Öffentlichkeitsorganisationen, gewöhnlich Medienorganisationen genannt, festgehalten werden, dass sie zwei Leistungen auf jeden Fall zu erbringen haben, nämlich Aufmerksamkeit zu gewinnen und Zahlungsfähigkeit sicher zu stellen.
Aufmerksamkeit und Zahlungsfähigkeit sind Grundvoraussetzungen für Leistungen von Medienorganisationen, aber was leisten sie? Mit welchem Leistungsangebot ist zu rechnen ist, wenn sich aufgrund der funktionalen Differenzierung ein eigener Funktionsbereich Öffentlichkeit herausbildet? Ein solches Leistungsspektrum lässt sich aus der Logik der Kommunikation erschließen. Leistungen bedienen Erwartungen der Umwelt. Die öffentliche Mitteilung kann auf drei verschiedene Umwelten gerichtet sein. Sie kann strategisch am Zweck des Absenders orientiert sein; dann handelt es sich um Werbung oder Öffentlichkeitsarbeit. Sie kann zweitens auf den Erlebniswert der Rezipienten abzielen; dann handelt es sich um Unterhaltung. Sie kann drittens Themen, Ereignisse und Personen fokussieren; dann handelt es sich um Journalismus, der berichtet und kommentiert. Strategische Zweckbindung, Unterhaltung und Ereignisdarstellung sind die drei Grundformate öffentlicher Mitteilungen, für die sich die vier Programme Werbung, Öffentlichkeitsarbeit, Unterhaltung und Journalismus herausgebildet haben. Für diese Programme haben sich Leistungsrollen und eine damit einhergehende Professionalisierung entwickelt, die vielfältige Berufe entstehen ließ und lässt.
Der konzentrierte Blick auf die journalistische Arbeit neigt dazu, ihre organisatorischen Voraussetzungen auszublenden. Die Finanzierung von Werbung, Öffentlichkeitsarbeit und Unterhaltung kann im Einzelfall scheitern, die Finanzierung von Journalismus hingegen ist prinzipiell prekär. Journalismus hat mit einem Missverhältnis zwischen den Kosten für Content-Produktion und medialer Distribution einerseits und andererseits der Zahlungswilligkeit und -fähigkeit seines Publikums zu kämpfen. Umgekehrt ist es schwierig, für Werbung und Öffentlichkeitsarbeit öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen, weil das Publikum weiß, dass es hier nicht primär um seine, sondern um die Angelegenheiten der Absender geht. Journalistische Berichte und Kommentare wiederum können grundsätzlich mit Aufmerksamkeit rechnen, denn es werden Mitteilungen über relevante aktuelle Geschehnisse gemacht. Werbung und Öffentlichkeitsarbeit dürfen sich auf die Finanzkraft ihrer Auftraggeber verlassen, aber eben aus eigener Kraft nur wenig Aufmerksamkeit generieren. Deshalb drängelt sich die Werbung überall dort dazwischen, wo es anderen gelingt, ein großes Publikum anzusprechen und nimmt Streuverluste in Kauf; die Öffentlichkeitsarbeit dient sich dem Journalismus an, damit er ihre Mitteilungen aufnimmt und transportiert. Einzig der Unterhaltung gelingt, nicht immer, aber mit einer gewissen Zuverlässigkeit beides, die Aufmerksamkeit und die Zahlungsbereitschaft des Publikums auszulösen. Große Öffentlichkeitsorganisationen, Medienkonzerne wie Walt Disney, Time Warner, Sony, produzieren deshalb nicht zufällig primär Unterhaltungsmedien. Sie haben den zusätzlichen Vorteil, dass sie, wie der Journalismus, auch noch attraktiv für die Werbung sind.
Die drei Grundformate öffentlicher Mitteilungen, strategische Zweckbindung, Unterhaltung und Ereignisdarstellung entspringen Umweltorientierungen. Die Eigenlogik öffentlicher Kommunikation berücksichtigen sie dadurch, dass sie auf die Aufmerksamkeit ihres Publikums zielen. Mit der Digitalisierung bekommt der Eigenwert des Öffentlichen, die Aufmerksamkeit, eine massiv gestiegene praktische Durchsetzungskraft. Die vier Programme rücken unter dem Dach dieses Eigenwertes enger zusammen, gehen manchmal bis zur Unkenntlichkeit ineinander über. So entsteht, was mit „Publizismus“ vielleicht am klarsten beschrieben wird: Veröffentlichungen, die ihre volle Aufmerksamkeit der Aufmerksamkeit schenken, die sie wecken sollen.
Die Eigenlogik des Sports verlangt, dem Sieg einen Sieg folgen zu lassen; die Wirtschaft will aus Geld viel und aus viel noch mehr Geld machen; die Politik nutzt Macht für Machtgewinne; die Wissenschaft setzt auf alte neue Wahrheiten. In ihrem Eigensinn funktioniert die Öffentlichkeit erst, wenn sie ihre Aufmerksamkeit voll der Auflage, Quote und Klickrate schenkt, also den Messwerten der Aufmerksamkeit.
Die Symptome sind bekannt: Suchmaschinen empfehlen der Aufmerksamkeit ihres Publikums, was bereits die größte Aufmerksamkeit genießt. In Redaktionen werden die laufende Kontrolle der Klickrate und die Anpassung des Angebots zur Selbstverständlichkeit. Das Star-Prinzip wird generalisiert, die meiste Aufmerksamkeit bekommt, wer die größte Aufmerksamkeit hat. Es ist nicht mehr die Leistung für die Umwelt, sondern die Fixierung auf das eigene Erfolgsmedium, was den Publizismus ausmacht.
Gleichwohl muss die Reproduktion der Organisation im Sinne der Zahlungsfähigkeit oder, im Fall der Wirtschaftsorganisation, sogar der Gewinnmaximierung gewährleistet sein. Das dazugehörige Geschäftsmodell wurde im Privatfernsehen bereits erprobt: Die öffentlichen Mitteilungen der Organisation produzieren Aufmerksamkeit um der Aufmerksamkeit willen und verkaufen das so gewonnene Publikum an die Werbung. Journalismus in Publizismus zu transformieren, erweist sich für Medienorganisationen als lukrativ. Dass er sich dabei von dem historischen Anspruch befreit, kollektive Vernunft zu repräsentieren, ist nur eine der Konsequenzen. Trotzdem hat das Internet nichts gegen unabhängigen Qualitätsjournalismus. Es muss sich nur jemand finden, der ihn praktiziert und finanziert. Wer schon journalistischer Arbeit leben muss oder gar Gewinne mit ihr machen will, hat schlechte Karten.