Vertrauen

„Vertrauen ist der Anfang von allem“, lautete einmal der Werbeslogan eines bedeutenden deutschen Bankhauses. Denn Vertrauen ist offensichtlich eine Voraussetzung menschlichen Zusammenlebens. Allerdings motiviert den Menschen auch das Misstrauen gegenüber Menschen und Institutionen. Für die Optionen Vertrauen und Miss-trauen gibt es jedoch einen wichtigen Unterschied: Misstrauen ist ein negatives Vor-Urteil von stabiler Substanz. Vertrauen ist als positives Vor-Urteil dagegen viel fragiler. Dies hat Konsequenzen für die Kommunikation von Vertrauen.

Der Titel, des 1968 erschienen Buches von Niklas Luhmann, ist so abstrakt wie seinerseits komplexitätsreduzierend zugleich: Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität

Zunächst lässt sich Vertrauen als Problem des Entscheidens im Angesicht einer ungewissen Zukunft fassen. Es sei an Heinz von Foersters Diktum erinnert, „only those questions that are in principle undecidable, we can decide“ (Foerster 1992, S. 14). Denn, wenn der Weg eindeutig und alternativlos ist, bedarf es keiner Entscheidung mehr. Ähnlich verhält es sich mit dem Vertrauen. „Der völlig Wissende braucht nicht zu vertrauen“, schreibt Simmel (1908, S. 263). Für den Umgang mit einer ungewissen Zukunft sind daher riskante Vorleistungen unumgänglich. Vertrauen ist nach Luhmann ein Brückenschlag in die Zukunft, denn „wer Vertrauen erweist, nimmt Zukunft vorweg. Er handelt so, als ob er der Zukunft sicher wäre. Man könnte meinen, er überwinde die Zeit, zumindest die Zeitdifferenzen“ (Luhmann 1968, S. 8).

Der Vertrauende kann, wenn überhaupt, in einem akzeptablen Zeithorizont kaum überprüfen, ob das Vertrauen gerechtfertigt war. Eine Möglichkeit, die Chance für Vertrauen zu erhöhen, besteht darin, mit Sanktionierungen zu drohen und im Falle eines Vertrauensverlusts Sanktionen auch durchzusetzen. So sind Bestrafungen vor Gericht auch als Folge eines Vertrauensmissbrauchs zwischen Staat und Bürger zu sehen. Bereits Thomas Hobbes beschreibt in seinem Leviathan (1651, S. 102) die Aufgabe des Souveräns unter anderem darin, als richterliche Instanz Vertrauensbruch mit Sanktionen zu belegen. Persönliches Vertrauen wird also ersetzt durch Vertrauen in ein mit Sanktionsvollmachten ausgestattetes übergeordnetes Funktionssystem.

Sanktionen galten aber auch schon im Mittelalter als probates Mittel, um Vertrauensmissbrauch zu sanktionieren (vgl. Leitherer 1956). Dazu erfanden die Zünfte allerlei Verfahren der Selbstkontrolle. Bäckermeister, die es mit dem Gewicht ihrer Brötchen nicht so genau nahmen oder das Backwerk durch Zugabe von Kalk aufzuhellen versuchten, wurden öffentlich „geschnellt“, das heißt mehrmals mithilfe einer eigens entwickelten Apparatur kopfüber zu Strafe in einen Tümpel getunkt.

Neben dem Vertrauen zwischen Individuen wird in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft das Vertrauen zu Institutionen und Teilsystemen der Gesellschaft wie der Politik oder dem Finanzsystem für das Individuum immer herausfordernder. Gerade gegenüber Banken kommt es zu Informationsasymmetrien. Über Banken und ihre Geschäftspraktiken, die Anlass zum Misstrauen geben, erfährt man meist nur aus der Presse. Der Kunde, der einen Kredit beantragt, muss hingegen die Hosen runterlassen und seine finanzielle Lage offenbaren und zu allem Überfluss des Misstrauens wird abschließend eine Auskunft bei der SCHUFA eingeholt. Pikanterweise wirbt diese Auskunftei auch noch mit dem Slogan „Wir schaffen Vertrauen“.

Nach dem Motto „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“ scheint Transparenz also das vielversprechende Mittel zu sein, um Vertrauen zu erzeugen. Lässt sich vielleicht sogar durch die Parole „Vertrauen durch Transparenz“ der Unternehmensberater Eccles und Piazza (2003) verlorenes Vertrauen zurückgewinnen?

 

Die SINNSPIELER sehen es so:

Ein argwöhnischer Ehepartner, der einen Privatdetektiv beauftragt um den Partner zu beschatten, hat hinterher vielleicht Transparenz. Das Vertrauen ist verloren und ob es zurückgewonnen werden kann, bleibt fraglich. Da nützt es meistens auch nichts, auf Nummer sicher zu gehen. In dem Westernepos Spiel mir das Lied vom Tod bettelt ein Mann um das Vertrauen des Bösewichts Frank (Henry Fonda). Worauf Frank ihn mit den Worten erschießt: „Soll ich einem Mann trauen, der sich’n Gürtel umschnallt und außerdem Hosenträger hat? Einem Mann, der noch nicht mal seiner eigenen Hose vertraut?“ Vertrauenskommunikation erscheint aufrichtig. Aber „Aufrichtigkeit ist inkommunikabel, weil sie durch Kommunikation unaufrichtig wird“, warnt Niklas Luhmann (1984, S. 207). So dürfte auch dem Naiven klar sein, dass ein Unterschied zwischen Meinen und Sagen besteht. Wenn aber das Gesagte nicht das Gemeinte sein muss, kann man umgekehrt auch nicht sagen, dass man meint, was man sagt.

Der Anfang von allem ist genau genommen nicht Vertrauen, sondern Vertrautheit. Dass es dabei keinesfalls nur um eine bereits erlebte gemeinsame Interaktionsgeschichte gehen muss, sondern um Eindrücke, zeigt sich zum Beispiel am Beginn von Intimbeziehungen. Beide Partner erleben auch ohne gemeinsame Vita den Eindruck des Vertrautseins. Diese Vertrautheit sieht Luhmann als „Voraussetzung für Vertrauen wie für Misstrauen, das heißt für jede Art des Sichengagierens in eine bestimmte Einstellung zur Zukunft.“ (Luhmann 1968, S. 22f) Somit steht Vertrautheit – und nicht etwa Vertrauen wie im Slogan eingangs versprochen – am Anfang. Erst aus der Vertrautheit erwächst „Vertrauen, als Hypothese künftigen Verhaltens, die sicher genug ist, um praktisches Handeln darauf zu gründen“ (Simmel 1908, S. 263). Der Vertrauende geht dabei in eine riskante Vorleistung, indem er eine Zukunftsbestimmung über den Handlungsausgang riskiert, die nicht auf Wissen beruht, sondern allein darauf, wie er die Vertrauenswürdigkeit der Person einschätzt, der er Vertrauen entgegenbringt. Im biblischen Verständnis ist daher der Glaube an Gott die Voraussetzung für Vertrauen. Glaube und Vertrautheit bedingen sich gegenseitig. Die Menschen verlieren den Glauben weil sie offensichtlich immer weniger vertraut sind mit politischen und ökonomischen Themen und ihren Akteuren.

 

Literatur

Eccles, R., Di Piazza, S. (2003):Vertrauen durch Transparenz Die Zukunft der Unterneh-mensberichterstattung, Weinheim 2003.

Foerster, H. v.  (1992): Ethics and Second Order Cybernetics. In: Cybernetics and Human Knowing, 1.1, pp. 9–20, 1992.

Hobbes, T. (1651): Leviathan, hg. von Iring Fetscher, Frankfurt a. M. 1984.

Leitherer E. (1956): Das Markenwesen der Zunftwirtschaft. In: Der Markenartikel, 18. Jg. (1956), S. 685-707.

Luhmann, N. (1968): Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 1994.

Luhmann, N. (1984): Soziale Systeme, Frankfurt 1987.

Simmel, G. (1908): Soziologie: Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. Gesammelte Werke. Zweiter Band, Berlin 1983.

 

Publizismus

„Wir alle müssen uns von einem Journalismus verabschieden, der aus zwei Werten bestand: Qualität und Unabhängigkeit.“ (www.medienwoche.ch) Drohender Verlust, das ist ein bekanntes Phänomen, steigert die Wertschätzung. Was droht hier verloren zu gehen? Der Qualitätsjournalismus, Journalismus überhaupt, die kritische Öffentlichkeit insgesamt? Die Papiertaschentücher, die dem Journalismus hinter her winken – „Ist das Journalismus oder kann das weg?“ (Bernd Ulrich); „ich möchte mich verabschieden vom Journalismus“ (Hans Hoff) – sind tränennass.

Öffentlichkeit bildet sich durch Mitteilungen an alle, durch allgemein zugängliche Texte, Bilder, Töne und deren Rezeption. Wie eine Mitteilung noch keine Kommunikation, so macht die öffentliche Mitteilung noch keine Öffentlichkeit. Das Verstehen der Adressaten muss dazu kommen, ohne Publikum keine Öffentlichkeit. Was veröffentlicht wurde, kann gewusst werden, erlebt worden sein. Das Merkmal der öffentlichen Mitteilung, sich im Prinzip an alle zu richten, macht die Quantität des erreichten Publikums zu einem wichtigen Kriterium. Eine Veröffentlichung, der nur sehr wenige ihrer potentiellen Adressaten Aufmerksamkeit schenken, wirkt defizitär, sie ist unter ihren Erwartungen geblieben. Aufmerksamkeit zu gewinnen, ist die große Hürde, die jede Veröffentlichung überwinden muss.

Das Besondere der modernen Öffentlichkeit tritt hervor, wenn der – sehr grobe –  Vergleich zu einer stratifizierten mittelalterlichen Gesellschaft gezogen wird: Öffentliche Mitteilungen zu machen ist hier der Spitze vorbehalten, in der Macht, Recht, Wahrheit und Besitz kumulieren und so Herrschaft etablieren. In einer funktional differenzierten modernen Gesellschaft findet die öffentliche Kommunikation unter völlig anderen Bedingungen statt. Die gesellschaftlichen Funktionen sind entkoppelt, die Gesellschaft ist ohne Herrschaftszentrum, weil die Funktionsfelder auseinander treten. Politik, Recht, Wirtschaft, Wissenschaft etc. folgen ihren je eigenen Logiken. Die Öffentlichkeit wird zu einem eigenen Funktionssystem. Die politisch Mächtigen denken an ihre Macht, die Wirtschaft will mehr Haben, die Wissenschaft interessiert nur die Wahrheit, die Juristen nur das Recht, die Religion wird zur Privatangelegenheit: wer sieht sich noch für das große Ganze verantwortlich?

 

Wenn jeder Funktionsbereich zuerst an sich denkt, wenn alle Akteure verstrickt sind in den Eigensinn ihres Teilbereichs, wer behält dann das Allgemeine im Auge, wer hat noch den Überblick? Die Politik glauben manche, aber große Erwartungen richten sich auch an das Funktionsfeld Öffentlichkeit im Sinne gesamtgesellschaftlicher Verantwortung und Kontrolle. Der Öffentlichkeit wird der Status der kollektiven Vernunft zugeschrieben und dem Journalismus die ehrenvolle Aufgabe zugedacht, sie zu praktizieren.

Darüber wird gelegentlich vergessen, dass die öffentliche Kommunikation nicht mehr aus dem Himmel der Herrschaft fällt, sondern dass die praktischen Voraussetzungen zu publizieren jetzt organisiert werden müssen. Wie auf den anderen Funktionsfeldern – wo zum Beispiel Parteien als politische Organisationen entstehen, Unternehmen als wirtschaftliche, Gerichte als rechtliche, Universitäten als wissenschaftliche  – bilden sich auch Organisationen, Verlage und Sender, Agenturen und Studios, für öffentliche Kommunikation. Bei allen Unterschieden haben Organisationen eines gemeinsam: sie müssen zahlungsfähig bleiben, sonst verschwinden sie. Deshalb kann für Öffentlichkeitsorganisationen, gewöhnlich Medienorganisationen genannt, festgehalten werden, dass sie zwei Leistungen auf jeden Fall zu erbringen haben, nämlich Aufmerksamkeit zu gewinnen und Zahlungsfähigkeit sicher zu stellen.

Aufmerksamkeit und Zahlungsfähigkeit sind Grundvoraussetzungen für Leistungen von Medienorganisationen, aber was leisten sie? Mit welchem Leistungsangebot ist zu rechnen ist, wenn sich aufgrund der funktionalen Differenzierung ein eigener Funktionsbereich Öffentlichkeit herausbildet? Ein solches Leistungsspektrum lässt sich aus der Logik der Kommunikation erschließen. Leistungen bedienen Erwartungen der Umwelt. Die öffentliche Mitteilung kann auf drei verschiedene Umwelten gerichtet sein. Sie kann strategisch am Zweck des Absenders orientiert sein; dann handelt es sich um Werbung oder Öffentlichkeitsarbeit. Sie kann zweitens auf den Erlebniswert der Rezipienten abzielen; dann handelt es sich um Unterhaltung. Sie kann drittens Themen, Ereignisse und Personen fokussieren; dann handelt es sich um Journalismus, der berichtet und kommentiert. Strategische Zweckbindung, Unterhaltung und Ereignisdarstellung sind die drei Grundformate öffentlicher Mitteilungen, für die sich die vier Programme Werbung, Öffentlichkeitsarbeit, Unterhaltung und Journalismus herausgebildet haben. Für diese Programme haben sich Leistungsrollen und eine damit einhergehende Professionalisierung entwickelt, die vielfältige Berufe entstehen ließ und lässt.

Der konzentrierte Blick auf die journalistische Arbeit neigt dazu, ihre organisatorischen Voraussetzungen auszublenden. Die Finanzierung von Werbung, Öffentlichkeitsarbeit und Unterhaltung kann im Einzelfall scheitern, die Finanzierung von Journalismus hingegen ist prinzipiell prekär. Journalismus hat mit einem Missverhältnis zwischen den Kosten für Content-Produktion und medialer Distribution einerseits und andererseits der Zahlungswilligkeit und -fähigkeit seines Publikums zu kämpfen. Umgekehrt ist es schwierig, für Werbung und Öffentlichkeitsarbeit öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen, weil das Publikum weiß, dass es hier nicht primär um seine, sondern um die Angelegenheiten der Absender geht. Journalistische Berichte und Kommentare wiederum können grundsätzlich mit Aufmerksamkeit rechnen, denn es werden Mitteilungen über relevante aktuelle Geschehnisse gemacht. Werbung und Öffentlichkeitsarbeit dürfen sich auf die Finanzkraft ihrer Auftraggeber verlassen, aber eben aus eigener Kraft nur wenig Aufmerksamkeit generieren. Deshalb drängelt sich die Werbung überall dort dazwischen, wo es anderen gelingt, ein großes Publikum anzusprechen und nimmt Streuverluste in Kauf; die Öffentlichkeitsarbeit dient sich dem Journalismus an, damit er ihre Mitteilungen aufnimmt und transportiert. Einzig der Unterhaltung gelingt, nicht immer, aber mit einer gewissen Zuverlässigkeit beides, die Aufmerksamkeit und die Zahlungsbereitschaft des Publikums auszulösen. Große Öffentlichkeitsorganisationen, Medienkonzerne wie  Walt Disney, Time Warner, Sony, produzieren deshalb nicht zufällig primär Unterhaltungsmedien. Sie haben den zusätzlichen Vorteil, dass sie, wie der Journalismus, auch noch attraktiv für die Werbung sind.

Die drei Grundformate öffentlicher Mitteilungen, strategische Zweckbindung, Unterhaltung und Ereignisdarstellung entspringen Umweltorientierungen. Die Eigenlogik öffentlicher Kommunikation berücksichtigen sie dadurch, dass sie auf die Aufmerksamkeit ihres Publikums zielen. Mit der Digitalisierung bekommt der Eigenwert des Öffentlichen, die Aufmerksamkeit, eine massiv gestiegene praktische Durchsetzungskraft. Die vier Programme rücken unter dem Dach dieses Eigenwertes enger zusammen, gehen manchmal bis zur Unkenntlichkeit ineinander über. So entsteht, was mit „Publizismus“ vielleicht am klarsten beschrieben wird: Veröffentlichungen, die ihre volle Aufmerksamkeit der Aufmerksamkeit schenken, die sie wecken sollen.

Die Eigenlogik des Sports verlangt, dem Sieg einen Sieg folgen zu lassen; die Wirtschaft will aus Geld viel und aus viel noch mehr Geld machen; die Politik nutzt Macht für Machtgewinne; die Wissenschaft setzt auf alte neue Wahrheiten. In ihrem Eigensinn funktioniert die Öffentlichkeit erst, wenn sie ihre Aufmerksamkeit voll der Auflage, Quote und Klickrate schenkt, also den Messwerten der Aufmerksamkeit.

Die Symptome sind bekannt: Suchmaschinen empfehlen der Aufmerksamkeit ihres Publikums, was bereits die größte Aufmerksamkeit genießt. In Redaktionen werden die laufende Kontrolle der Klickrate und die Anpassung des Angebots zur Selbstverständlichkeit. Das Star-Prinzip wird generalisiert, die meiste Aufmerksamkeit bekommt, wer die größte Aufmerksamkeit hat. Es ist nicht mehr die Leistung für die Umwelt, sondern die Fixierung auf das eigene Erfolgsmedium, was den Publizismus ausmacht.

Gleichwohl muss die Reproduktion der Organisation im Sinne der Zahlungsfähigkeit oder, im Fall der Wirtschaftsorganisation, sogar der Gewinnmaximierung gewährleistet sein. Das dazugehörige Geschäftsmodell wurde im Privatfernsehen bereits erprobt: Die öffentlichen Mitteilungen der Organisation produzieren Aufmerksamkeit um der Aufmerksamkeit willen und verkaufen das so gewonnene Publikum an die Werbung. Journalismus in Publizismus zu transformieren, erweist sich für Medienorganisationen als lukrativ. Dass er sich dabei von dem historischen Anspruch befreit, kollektive Vernunft zu repräsentieren, ist nur eine der Konsequenzen. Trotzdem hat das Internet nichts gegen unabhängigen Qualitätsjournalismus. Es muss sich nur jemand finden, der ihn praktiziert und finanziert. Wer schon journalistischer Arbeit leben muss oder gar Gewinne mit ihr machen will, hat schlechte Karten.

Positionierung

Zu den Mysterien von Marketing und strategischer Kommunikationsplanung gehört die Positionierung. Mysterium vor allem deshalb, weil die Positionierung als conditio sine qua non auf der Agenda der Organisationen ganz oben steht wie ein Fels in der Brandung, an dem nichts und niemand zu rütteln vermag.

Der Terminus stammt wie viele andere Bezeichnungen im Management aus dem Militärischen. Ursprünglich galt unangefochten, dass es die Position auf einem definierten und allgemein anerkannten Hauptkampfplatz ist, die über Sieg und Niederlage entscheidet. Gewonnen hatte der Kombattant, der den Hauptkampfplatz erfolgreich verteidigte. Zentraler Kampfplatz der auf das Management transformierten Positionierung ist das Positionierungskreuz in seinen Variationen oder die Portfoliomatrix.  Gemeinsam ist beiden Konzepten der fundamentalistische Gestus: hier stehe ich und kann nicht anders. Ist die Entscheidung einmal gefallen, gibt es kein Zurück, so und nicht anders, Sieg oder Verderben.

Die Positionierung suggeriert im Krieg wie im Management, dass eine Position die richtige und entscheidende ist. Und diese Position muss ausgewählt und besetzt werden. Der klassische Positionierungsansatz versucht Komplexität zu reduzieren. Der USP (Unique Selling Proposition) setzt auf ein Argument als Verkaufsversprechen zur Differenzierung von anderen Angeboten. Ein Argument ist dann (kriegs-)entscheidend.

Zurück zum Militärischen: Spätestens nach den desaströsen Erfahrungen mit Stellungskriegen im Ersten Weltkrieg und der im Zweiten Weltkrieg nicht minder menschenverachtenden Strategie des Einkesselns (von Positionen) sind Positionierungen im Militärischen nur noch Gegenstand taktischer Überlegungen. Umso bemerkenswerter, wie die strategische Unternehmens-, Marketing- oder Kommunikationsplanung an der Metapher der Positionierung festhält.

Robert H. Scales (2004) beschreibt aus den Erfahrungen mit asymmetrischen Konflikten das Konzept des „Cultur-centric Warfare“. Dieser Ansatz relativiert die militärtechnologischen Möglichkeiten und betont stattdessen weiche Faktoren wie Motivation, Intention, Methode und Kultur waffentechnisch wie zahlenmäßig unterlegener Gegner. Kommunikativ wie militärpraktisch lässt sich deren Vorgehen nach Michel de Certeau als „Taktik“ des Kriegs der vierten Generation beschreiben. Dabei wird die Positionierung sogar zum Risiko, weil sie die Anderen (Konkurrenten, Kunden, Interessengruppen etc.) zu Manövern der Aneignung und des Umfunktionierens motiviert (De Certeau 1988: 23).

Nimmt man den Ansatz des Culture-centric Warfare ernst, dann besteht weniger Positionierungs-, sehr viel mehr Kommunikationsbedarf – genauer Narrationsbedarf. Dass nämlich die besseren Geschichten nicht selten ausschlaggebend sind für den militärischen Erfolg wusste bereits zur Zeit der Kreuzzüge der Abt von Cluny, Petrus Venerabilis, und ließ sich zu dem für damalige Verhältnisse kühnen Unternehmen der ersten Koranübersetzung ins Lateinische hinreißen. Le Goff bemerkt dazu, dass „Petrus Venerabilis als erster die Idee hatte, die Moslems nicht auf militärischem, sondern auf geistigem Gebiet zu bekämpfen“ (Le Goff 1986, 22). Fast 1000 Jahre später stehen wir in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen einer vernetzten globalisierten Welt – so schließt sich der Kreis – vor ähnlichen Herausforderungen.

Bemerkenswert ist, dass in den Think Tanks der Militärs längst über strategische Narrationen, „Strategic Narratives“ (Freedman 2006, 22) diskutiert wird, während man in den Chefetagen der Unternehmen, aber auch der Parteien, Verbände und Vereine noch seine Position zu behaupten sucht – wenn man sie überhaupt jemals findet.

 

Die Alternative zur Positionierung heißt nicht keine Position. Wer keine Position einnimmt, bekommt eine zugewiesen, irgendwo steht man immer, solange man nicht ausgeschieden ist. Aber statt der betonköpfigen Haltung ’so und nicht anders‘ bedarf es der Bereitschaft, bessere Möglichkeiten jederzeit für denkbar zu halten: ’so oder auch anders‘. Das Risiko eines zu frühen oder zu späten Positionswechsels zieht damit die Aufmerksamkeit auf sich. Das Führungsverhalten verändert sich grundlegend. Aus den kleinen Göttern des Alltags, die im Fall der Niederlage zu großen Schurken umgedeutet werden, werden Freunde verständigungsorientierter Kommunikation – nicht als Ersatz für die eigene Entscheidung, sondern als deren Voraussetzung.

Die Alternative zur Position ist die Narration. Für das strategische Erzählen sind, nimmt man die Erkenntnisse der Militärs ernst, die Narrative von Konsumenten und Produzenten gleichermaßen relevant. Narrative Strategien sind also nicht bloß erzählerische Vermittlungen der Markenbotschaft an das Zielpublikum. Vielmehr entsteht die Narration im Zusammenspiel zwischen Produzenten und Konsumenten. Ein hierzulande wenig verbreitetes Beispiel ist das aus dem alten China überlieferte Arsenal von Kunstgriffen des situativen listigen Handelns. Diese 36 Strategeme (von Senger 2011) sind als Narration von Generation zu Generation überliefert worden. Genau genommen, und das ist die Herausforderung für die Strategische Kommunikationsplanung, sind sie aber keine strategischen Narrationen, sondern narrative Strategien.

 

De Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns. Berlin: Merve.

Freedman, Lawrence (2006). The Transformation of Strategic Affairs. Abingdon / New York: Routledge.

Le Goff, Jaques (1986): Die Intellektuellen im Mittelalter. München: DTV 1993.

Scales, Robert H. (2004): Culture-Centric Warfare, US Naval Institute Proceedings, October 2004.

Von Senger, Harro. (2011): 36 Strategeme: Lebens- und Überlebenslisten aus drei Jahrtausenden. Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag.

 

Originalitätsverdacht

Wie die Lungen Sauerstoff, so brauchen das Bewusstsein und die Sprache Sinn. Wahrnehmung und Kommunikation finden im Medium Sinn oder gar nicht statt.

Markenkern

Das Thema Markenkern hat ein Kernproblem. Ungeachtet dessen, suchen Organisationen und inzwischen sogar Individuen nach ihrem Markenkern. Was hat es damit auf sich und wie kann es sein, dass auch Journalisten diesen Terminus unvoreingenommen übernehmen?

Marken fungieren als Bedeutungsrelation. Etwas gilt in den Köpfen möglichst vieler Menschen für etwas. Dazu bedarf es einer Markierung, um den Geltungsanspruch öffentlich zu vertreten.  Um einen alte Werbetautologie zu zitieren: „Nur wo Nutella draufsteht, ist auch Nutella drin.“ Da die meisten Waren heute nicht mehr als Erzeugnis einer Persönlichkeit erlebt werden, kaum noch jemand weiß, welche Menschen hinter den schnelllebigen Konsum- und Gebrauchsgütern stecken, erfand man den Anthropomorphismus Markenpersönlichkeit. Die Ware wird also personifiziert, um die ursprünglich persönliche Vertrauensbeziehung zwischen natürlichen Personen wieder herzustellen. Seitdem ist die Markenpersönlichkeit eine allgemein akzeptierte Metapher für Marketing und Vertrieb, bei der immer häufiger auch die Experten nicht mehr zwischen Fiktion und Realität unterscheiden können. Kritisch gewendet kommt der Journalist Joel Bakan (2004) zu dem Ergebnis, dass sich die meisten Markenpersönlichkeiten nach den Kriterien der Weltgesundheitsorganisation wie klinische Psychopathen verhalten.

Der Markenkern ist nach Ansicht der Marketingexperten nun so etwas wie die Seele der Markenpersönlichkeit. Dahinter verbirgt sich eine traditionsreiche und gleichermaßen antiquierte wie hochphilosophische Vorstellung, die in Person des Flaschengeistes eines berühmten Haushaltsreinigers realpräsent wird. Es geht um die Rede vom Personenkern, über die der Philosoph Odo Marquard (1979: 348) bemerkt, dass damit nicht das gemeint sei, „was die Menschenfresser ausspucken müssen“. Die Kernmetapher führt dabei unweigerlich zu der Unterscheidung zwischen Schein und Sein. In guter deutscher Tradition; denn „mehr sein als scheinen“ lautete schon die Aufforderung der preußischen Generalität. Bei Kurt Tucholskys (1929) wird daraus der Deutsche als „Bruder Innerlich“ und dieser „entschuldigt gern einen ungepflegten Stil mit der Tiefe des Gemüts, aus der es dumpf heraufkocht“.

Man wundert sich, dass z.B. Parteien wie die FDP nach ihrer Innerlichkeit respektive ihrem Kern suchen, hatte doch der große Liberale Lord Dahrendorf bereits in den 60er Jahren mit der Rollentheorie ein zeitgemäßeres Identitätsverständnis aus dem Angelsächsischen in Deutschland salonfähig gemacht.

Die SINNSPIELER sehen es so:

Die Differenz zwischen Kern und Hülle beziehungsweise Schein und Sein ist nicht mehr der Rede wert. Der Kern ist trivial, weil sich im Kern nichts unterscheidet. Vielmehr ist die Marke das, was sie ist, indem sie wird, was sie gesellschaftlich anerkannt darstellt. Nimmt man dieses Rollenmodell ernst, dann haben Marken kein Kern-, sondern ein Performanceproblem. In jedem Fall sollte man das Problem der Markenidentität mit zeitgemäßen Identitätsverständnissen behandeln (siehe Sinntest Identität) und nicht frei nach Platon die im Markenkörper verbannte Seele suchen.

Literatur

Bakan, Joel (2004): The Corporation. The Pathological Pursuit of Profit and Power.  New York; London; Toronto; Sydney: Free Press.

Marquard, Odo (1979): Identität: Schwundtelos und Mini-Essenz – Bemerkungen zu einer Genealo-gie einer aktuellen Diskussion. In: Marquard, Odo / Stierle, Karlheinz. Poetik und Hermeneutik VIII. Identität. München: Fink, 347-369.

Tucholsky, Kurt (1929): „Schwarz auf Weiss“. In: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Herausgegeben von Mary Gerold-Tucholsky u. Fritz Raddatz. 1975, Band 7, S.49.

Identität

Identität f. erw. fach. (<18. Jh.). Entlehnt aus ml. Identitas, einem Abstraktum zu 1. Idem ‚der selbe’, einer Erweiterung von 1. is ‚er, der’. (Kluge Etymologisches Wörterbuch, der dt. Sprache).
„Das Thema »Identität« hat Identitätsschwierigkeiten.“ (Marquard 1979: 347)

Das Kernproblem der Identität wird im Märchen »Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich« in Grimms Märchen an erster Stelle thematisiert. Ein ansehnlicher Prinz erscheint als garstiger Frosch und wird als happy end aus dem Froschkörper befreit. Ähnlich die Identitätsvorstellung Platons, nach der zwischen der eigentlichen menschlichen Seele und dem Körper, in dem diese verbannt ist, unterschieden wird. Es ist die alte und offensichtlich zeitlose Vorstellung vom Personenkern, über die der Philosoph Odo Marquard (1979: 348) bemerkt, dass damit nicht das gemeint sei, „was die Menschenfresser ausspucken müssen“. Die Kernmetapher führt unweigerlich zu der Unterscheidung zwischen Schein und Sein. In deutscher Tradition; denn „mehr sein als scheinen“ lautete bekanntlich die Aufforderung der preußischen Generalität. Bei Kurt Tucholskys (1929) wird daraus der Deutsche als „Bruder Innerlich“ und dieser „entschuldigt gern einen ungepflegten Stil mit der Tiefe des Gemüts, aus der es dumpf heraufkocht“.

Die Differenz zwischen Kern und Hülle beziehungsweise Schein und Sein ist zumindest wissenschaftlich nicht mehr up to date. Das sozialpsychologisch aktualisierte Identitätsverständnis definiert den Menschen „dadurch, daß einer ist, was er ist, indem er wird, was er – gesellschaftlich anerkannt – darstellt“ (Marquard 1979: 350). Das deckt sich weitgehend mit dem Imagebegriff von Goffman:

Der Terminus Image kann als der positive soziale Wert definiert werden, den man für sich durch
die Verhaltensstrategie erwirbt, von der die anderen annehmen, man verfolge sie in einer bestimmten Interaktion. (1967: 10) […] Von einer Person kann man sagen, daß sie ein Image hat, besitzt oder es wahrt, wenn ihre Verhaltensstrategie ein konsistentes Image vermittelt, daß durch Urteile dieser Situation bestätigt wird. (ebd. 11 und vgl. Goffman 1959)

Damit wird die Identität zur Rolle bzw. Rollen, die abhängig von den jeweiligen sozialen Rahmen bzw. Referenzgruppen, mit denen man kommuniziert, vielgestaltig sind. Und anstatt sich mit seinem Innersten (Kern, Seele etc.) zu beschäftigen, müsste man mehr Wert legen auf die Performance. In jedem Fall sollte man Identitätsprobleme mit zeitgemäßen Identitätsverständnissen behandeln und nicht weiter die im Körper verbannte Seele suchen.

Auch der Bezug zur Ästhetik und Kunst soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, sind doch die spannendsten Stücke der Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation nicht selten großes Theater bzw. darstellende Kunst:

Es ist einem enttäuschten Kollegen immer möglich, zum Überläufer zu werden und dem Publikum die Geheimnisse des Stücks zu verraten, das seine ehemaligen Kollegen noch immer spielen. Jede Rolle hat ihre entlaufenen Priester, die uns erzählen, was im Kloster vor sich geht, und die Presse hat stets lebhaftes Interesse an derartigen Bekenntnissen und Enthüllungen bewiesen. GOFFMAN (1967: 150)

 

 

Literatur

GOFFMAN Erving (1959): Wir alle spielen Theater: Die Selbstdarstellung im Alltag. [zuerst engl.: The Presentation of Self in Everyday Life, Doubleday & Company, Inc., New York] 7. Aufl. München: Piper 1998.

GOFFMAN Erving (1967): Interaktionsrituale: Über Verhalten in direkter Kommunikation. [zuerst engl.: Interaction Ritual: Essays on Face- to- Face Behavior, Anchor Books, Doubleday & Company, Inc., Garden City, New York] 3. Aufl. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994.

Marquard, Odo (1979): Identität: Schwundtelos und Mini-Essenz – Bemerkungen zu einer Genealo-gie einer aktuellen Diskussion. In: Marquard, Odo / Stierle, Karlheinz. Poetik und Hermeneutik VIII. Identität. München: Fink, 347-369.

Tucholsky, Kurt (1929): „Schwarz auf Weiss“. In: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Herausgegeben von Mary Gerold-Tucholsky u. Fritz Raddatz. 1975, Band 7, S.49.

Begriffe und ihre Bedeutungsvielfalt           

Zum Standard der Einleitungen sozialwissenschaftlicher Texte gehört es, die verbindliche Definition von Begriffen zu vermissen. Jeder größere Beitrag, das hat schon rituellen Charakter, beginnt mit der Klage über die vielen verschiedenen Definitionen, die im Umlauf sind. Nicht selten hat sich schon jemand die Mühe gemacht, sie zu zählen. Er/ Sie kann dann zuverlässig damit rechnen, so zitiert zu werden, dass anno dazumal von Mister X bzw. Miss Y bereits soundsoviel Definitionen zusammengetragen worden seien und zwischenzeitlich seien es gewiss nicht weniger geworden. Vorgetragen im Ton einer Mängelrüge, wird die Botschaft gesendet: Sehr viel besser wäre es, wäre es anders, hätten wir es mit klar definierten Begriffen zu tun, deren Sinn feststeht, von allen so und nicht anders verstanden wird.

Nun sind Definitionen nur Grenzziehungen, keine Erklärungen. Die Kenntnis, wie groß ein Grundstück ist, informiert nicht über dessen Beschaffenheit und Lage. Trotzdem ist es natürlich nützlich zu wissen, wo es anfängt und wo es aufhört. Bei Grundstücken ist das leichter als bei Begriffen, weil diese nur im Medium Sinn erfasst werden können. Weshalb ist der Befund Definitionswirrwarr in der Regel zutreffend, aber die Klage darüber  absurd?

Andernorts feiern wir Differenzierungen als Reichtum, loben Hybrid-Plattformen und benutzen Dekontextualisierung als Zauberwort. Sobald wir uns aber an einen wissenschaftlichen Text machen, fürchten wir die Vielfalt der Deutungen, es wird uns zu bunt. Wissenschaftliche Kommunikation hätten wir gerne einfarbig und eintönig. Um anschließend über Langeweile zu klagen?

Der Ruf nach Eindeutigkeit kommt der Forderung gleich, die Zeichen eines Begriffs, etwa die acht Buchstaben, die im Deutschen „Freiheit“, oder die Laute, die „Management“ bezeichnen, sollten Signale sein wie das Rot einer Verkehrsampel, das den einzigen Sinn aktualisiert: stehen bleiben. Wer etwas anderes darunter versteht, muss bestraft, und im Fall fortgesetzten Missverstehens aus dem Verkehr gezogen werden. Übertragen auf die Sprache hätte es die Konsequenz, dass jeder Begriff als eine Art Sinngefängnis gebaut wird, in dem eine und nur eine Bedeutung eingekerkert ist; wer sie befreit oder eine andere hineinlässt, wird aus dem Kommunikationszusammenhang ausgeschlossen. Strenge Religionen, die nach der Devise selig werden, du sollst keine Bedeutungen neben unseren kennen, verhalten sich entsprechend.

Dass die Sprache und auch die Dinge, selbst wenn diese nicht besprochen, sondern nur wahrgenommen werden, in einem gewissen Sinn verstanden werden, der Nachvollziehbarkeit und damit Anschlussfähigkeit erlaubt, das stellt die Kultur sicher – ein ‚schrecklich’ polysemantisches Wort. Kultur steckt die Sinnhorizonte ab, in welchen sich soziale Ordnung etabliert. Sie umfasst, was sich im jeweiligen Kulturkreis von selbst versteht, bis ein Störenfried auftaucht, der es anders versteht. Es geht also nicht ohne Sinngrenzen, aber Sinngefängnisse sind nicht die Lösung.

Einerseits erscheint es für das gesellschaftliche Zusammenleben als große Erleichterung, wären die in der Kommunikation verwendeten Zeichen für alle in jeder Situation eindeutig. Und die Alltagssprache sorgt auch dafür, dass eine Art Grundverständnis für regelmäßig benutzte Wörter sich durchsetzt, so etwas wie der Schattenriss einer Bedeutung, der erkennen lässt, dass ein Haus kein Baum ist und man sich trotzdem unter einem Baumhaus etwas vorstellen kann. Andererseits wäre es eine dramatische Verengung der Möglichkeiten, das Geschehen in der Welt zu verstehen, gäbe es für Jedes und Jeden nur eine gültige Bedeutung. Wäre Eindeutigkeit zwischen Absender und Rezipienten Bedingung der Möglichkeit für Anschlusskommunikation, könnten nur Gleichgesinnte miteinander kommunizieren, Missverständnisse müssten zum Abbruch der Kommunikation führen, Differenzen mündeten schnell in Handgreiflichkeiten. Anders als es der Alltagswunsch nach klaren und eindeutigen Begriffen annimmt, liegt darin nicht nur eine Erleichterung im Einzelfall, sondern auch eine Behinderung im Normalfall kommunikativen Handelns.

Die Möglichkeit, Zeichen so oder auch anders zu verstehen, einen weiteren Sinnhorizont aufzuspannen, führt zwar zu Missverständnissen, aber über die kann man jetzt reden, weil nicht jede Abweichung sofort als Unsinn diskreditiert wird. Die schöne Freiheit, sich ein eigenes Verständnis erarbeiten, ein Stück Eigensinn entwickeln zu können, gehört zur Individualisierung wie die Vielfalt zur Natur. Für die Kommunikation und deren Fortsetzbarkeit ist die Pluralität des Sinns eine Lösung, denn die Autonomie des Verstehens erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es (irgendwie) weitergeht. Sobald akzeptiert ist, dass Andere Dasselbe anders verstehen, kann man sich verständigen.

Dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über Bedeutungsvielfalt klagen, mutet allerdings besonders merkwürdig an. Auch wissenschaftliche Zugriffe auf ein Thema können nur Beobachtungen sein; methodische Strenge und theoretisch ausgewiesene Verortung ändern das nicht, sie machen im Gegenteil die Beobachtungsleistung genauer nachvollziehbar und damit besser kritisierbar. Wie niemand sonst zielen wissenschaftliche Beobachter darauf, an ihrem Gegenstand etwas anderes zu beobachten, ihn anders zu beschreiben, denn nur darin kann die Erkenntnis, das neue Wissen liegen. Sich in das Sinngefängnis einer vorgegeben Definition zu begeben, schränkt die Möglichkeiten ein, neue Perspektiven zu eröffnen, neue Einsichten zu gewinnen. Das heißt, dieselbe Wissenschaft, die alles daran setzt, immer wieder andere Bestimmungen beispielsweise der Gerechtigkeit, des Managements, des Journalismus zu erforschen, beschwert sich gleichzeitig darüber, dass es so viele verschiedene Freiheits-, Management- und Journalismusdefinitionen gibt.

Pluraler Sinn ist kein Freischein für X-Beliebigkeit, im Alltag nicht und in der Wissenschaft erst recht nicht, denn die Arbeit am Begriff ist ein zentrales Moment wissenschaftlicher Wahrheitssuche. Aber die aufgeklärte Wissenschaft weiß, dass ihre gerade gültige Wahrheit gestern eine andere war und morgen überholt sein wird. Zudem ist sie sich unter modernen Bedingungen im Klaren darüber, dass Wirtschaft, Politik, Massenmedien, Kunst etc. ihre eigenen Wirklichkeiten haben, dass wir es, wie Soziologen sagen, mit multiperspektivischen und polykontexturalen Verhältnissen zu tun haben. Je mehr sich eine Gesellschaft oder auch nur eine Organisation ausdifferenziert, desto wahrscheinlicher werden unterschiedliche Informationslagen und daraus resultierende abweichende Deutungen.

Diese Spannung auszuhalten, darauf kommt es an: Sowohl mit Sorgfalt und Ausdauer an der Semantik der zentralen Begriffe eines Themas zu arbeiten, als auch anzuerkennen, dass ein gutes Ergebnis trotzdem eine unverbindliche Verbindlichkeit bleibt. Die nächste wissenschaftliche Arbeit zum gleichen Thema wird wieder mit dem Lamento beginnen, es fehle an eindeutigen Begrifflichkeiten. Aber irgendwann wird sich die Erfahrung durchsetzen, dass es besser so ist, dass es zwar semantischer Grenzen, aber keiner Gefängnisse bedarf.

 

Berichterstattung, objektive

Eine objektive Berichterstattung der Medien klagt gerne ein, wer in der öffentlichen Darstellung gerade schlecht wegkommt. Als Anspruch steht Objektivität auch in journalistischen Berufs-Richtlinien und Ethik-Kodices weit oben. „Eine Grundbedingung für eine demokratische Gesellschaft ist objektive Berichterstattung“, kann man in Unterrichtsmaterialien lesen.

Hier wird, typisch für Werte, eine Messlatte gelegt, die nur dann nicht gerissen wird, wenn alle darunter wegtauchen. Weil der Erwartung ‚Objektivität’ niemand gerecht werden kann, haben diejenigen leichteres Spiel, die gar nicht erst den Versuch sachgerechter Darstellungen machen: Wenn jeder subjektiv-gefärbt berichtet, dann ist ein bisschen mehr Manipulation auch egal, dann kommt es auf den Unterschied zwischen X und Y nicht an, weil beider Abstand zu A so groß ist.

Der Wert ‚objektive Berichterstattung‘ wendet sich, wie viele prominente Werte der modernen Gesellschaft, gegen die schlechte alte Zeit feudaler Verhältnisse. Als die Öffentlichkeit fest in der Faust der Herrschenden, der Kirche und des Adels war, kam keiner auf die Idee, die öffentliche Kommunikation könnte objektiv sein. Gegen solche Zustände ist Zweierlei geschehen: Die Meinungsfreiheit und ihre schöne Tochter, die Pressefreiheit, wurden durchgesetzt. „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ So steht es im Artikel fünf des deutschen Grundgesetzes.

Eine prächtige Lösung – mit ein paar Folgeproblemen: Wenn alle reden dürfen, muss niemand zuhören. Wenn jeder nur seine Meinung sagt, woher sollen dann verbindliche und verlässliche Informationen kommen? Wenn wirklich jeder, auch Hinz und Kunz ihre Meinung öffentlich verbreiten, muss dann nicht damit gerechnet werden, dass viel Lärm auf niedrigem Niveau entsteht? Das Oberlehrer-Lamento über Massenkultur kennt man. Um den Einzelnen tatsächlich eine öffentlich wahrnehmbare Stimme zu geben, fehlen nach 1789 rund 200 Jahre lang die technischen Voraussetzungen. (Die Digitalisierung ändert das, es ist spannend geworden). Die Bürger und Bürgerinnen bekommen – nach und nach, nicht ohne blutige Konflikte – ihre Wählerstimme und, ziemlich ungerecht verteilt, ihre Kaufkraft. Pressefreiheit jedoch und damit die Frage objektiver Berichterstattung konzentriert sich auf den Berufsstand des Journalismus sowie die Verlage und Sender, welche über Massenmedien verfügen.

Um zu erklären, warum es mit der Objektivität in den Print- und Funkmedien nicht klappt, setzen sich zwei Deutungsmuster durch. In einem Fall sind die Journalisten, Verlage und Sender die Täter. Nicht zwingend alle gleichzeitig, stärker ins Visier geraten die Entscheider, die Eigentümer sowie das verlegerische und redaktionelle Management. Der einzelne Journalist hingegen kann durchaus zum Helden avancieren, der objektive – in diesem Kontext dann meist verstanden als kritische, investigative – Arbeit leistet oder wenigstens leisten würde, wenn man ihn ließe. Verhindert werde die Objektivität beispielsweise, weil Verlage und Sender ihre eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen favorisieren, aber auch weil Journalisten als Gatekeeper eine Oberschichten-Sozialisation haben bzw. umgekehrt missionarischen Eifer für Unterprivilegierte und Entrechtete an den Tag legen.

Im anderen Fall sind es vor allem der Staat, die Politik und die Wirtschaft, jedenfalls Einflüsse von außen, welche die Verlage und Sender unter Druck setzen. Die Täter sitzen nach dieser Deutung außerhalb des Mediensystems, das seine Selbstdarstellung als Hüter der Demokratie pflegen darf wie etwa im Fall des schließlich zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff.

Die Gemengelage ist also durchaus vielschichtig, im Kern geht es um die Unabhängigkeit und Überparteilichkeit öffentlicher Informationen. Das ist die realistische Problemstellung, die vom Begriff der Objektivität überlagert und in eine irreführende, erkenntnistheoretische Richtung abgelenkt wird. In der Erkenntnistheorie darf der Anspruch der Objektivität als erledigt gelten. Das Argument, dass es kein Erkennen irgendeines Objektes geben kann ohne einen Erkennenden, also ohne einen sogenannten Beobachter, klingt plausibel. Sich auf Objektivität zu berufen, kommt deshalb dem Versuch gleich, sich als Erkennender aus der Verantwortung zu stehlen für das, was als Erkenntnis verkündet wird. „Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden. Die Berufung auf Objektivität ist die Verweigerung der Verantwortung – daher ihre Beliebtheit“, sagt Heinz von Förster (2004).

Wer immer etwas mitteilt, egal ob öffentlich oder intern, kann nur aus dem Reservoir der Informationen schöpfen, über die er verfügt. Was ich nicht weiß, macht mich nicht nur nicht heiß, ich kann auch nicht darüber reden, nicht einmal daran denken. Wie kommt mensch an Informationen? Wie auch immer, jedenfalls nur auf der Basis, nur in dem Horizont der Informationen, die er/sie schon hat. Diese Basis, dieser Horizont verändert sich ständig, verengt sich durch Vergessen, erweitert sich durch Lernen, aber jede Veränderung passiert auf dem jeweiligen status quo. Jedermanns Anschlussfähigkeit für Informationen ist selektiv – ein neuerlicher Hinweis auf den Unsinn der Objektivität. Wenn schon die Informationsbasis nichts mit Objektivität zu tun hat, wie wenig dann erst die Mitteilung, die zur Veröffentlichung ausgewählt wird. Von der Präsentation der Mitteilung ganz zu schweigen, in die individuelle Selektionsentscheidungen der Journalisten, organisationale Vorgaben der Redaktion und des Verlages, Vorab-Selektionsentscheidungen von Nachrichtenagenturen eingehen.

Haken wir Objektivität ab, weil sie vom Kern, von der Frage der Unabhängigkeit, ablenkt. Was Journalismus von anderen Veröffentlichungen, etwa der Werbung, der PR, der Unterhaltung, unterscheidet, ist die Funktion, das Publikum über das Neue und Wichtige in möglichst richtiger Weise aktuell zu informieren. Seine Auswahlkriterien dafür, welche Themen er wie aufgreift und darstellt, sollen gerade nicht von Einzelinteressen geleitet sein, sondern sich an einem – im konkreten Fall stets uneindeutigen, umstrittenen – allgemeinen Interesse orientieren; weniger im emphatischen Sinn des Allgemeinwohls (volonté générale), für das die Politik Zuständigkeit reklamiert, mehr im Sinn eines Interesses der Vielen (volonté de tous). Das Kriterium der Richtigkeit will nicht auf wissenschaftliche Wahrheit hinaus, wendet sich aber gegen Spekulationen, Gerüchte, Vermutungen. Ein im Einzelnen schwer definierbarer Aufwand an Sorgfalt, Kontrolle, Gegenrecherche wird damit angemahnt, der zu einer möglichst sachgerechten Darstellung befähigen soll. Die Grenzen sind fließend, aber nicht verschwindend. Der zeitgenössische Trend, sie verschwinden zu lassen, hat kein brauchbares Alibi.

Zeitdiagnostisch kann man durchaus zu der Einschätzung kommen, dass sich innerhalb und außerhalb des Mediensystems die Voraussetzungen für den professionellen Journalismus verschlechtert haben, seine Aufgabe zu erfüllen, über wichtiges Neues richtig zu informieren. Innerhalb, weil die Ökonomisierung vieler Verlage und Sender überhand nimmt. Am Ende geht es wie bei Google primär darum, mit welchen Mittel auch immer Publikum an Land zu ziehen, dessen Aufmerksamkeit sich an die Werbung verkaufen lässt. Außerhalb, weil es für Personen und ihre Leistungen, für Organisationen und ihre Produkte immer wichtiger wird, öffentlich bekannt und anerkannt zu sein. Dafür ist (möglichst positive) Medienpräsenz unerlässlich, so dass der PR-Druck auf die Redaktionen steigt und steigt.

Bernhard Pörsken (2012) könnte recht haben, wenn er sagt: „Journalismus ist im Grunde genommen ein unmöglicher Beruf, von unauflösbaren Widersprüchen gekennzeichnet: Man soll aufklären und Geld verdienen, der Wahrheit verpflichtet Profite für den eigenen Verlag erwirtschaften, die Gesellschaft orientieren, unter Hochgeschwindigkeit objektive Erkenntnisse produzieren und die Welt, zu der man gehört, vollkommen unabhängig und wie von außen beobachten.“

 

Förster, H. v./Pörsken, B. (2004): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, Heidelberg: Carl Auer

Pörsken, B. (2012): Die Ideologie der Reinheit. Interview in brand eins, 09/2012, http://www.brandeins.de/magazin/interessen/die-ideologie-der-reinheit.html