Begriffe und ihre Bedeutungsvielfalt           

Zum Standard der Einleitungen sozialwissenschaftlicher Texte gehört es, die verbindliche Definition von Begriffen zu vermissen. Jeder größere Beitrag, das hat schon rituellen Charakter, beginnt mit der Klage über die vielen verschiedenen Definitionen, die im Umlauf sind. Nicht selten hat sich schon jemand die Mühe gemacht, sie zu zählen. Er/ Sie kann dann zuverlässig damit rechnen, so zitiert zu werden, dass anno dazumal von Mister X bzw. Miss Y bereits soundsoviel Definitionen zusammengetragen worden seien und zwischenzeitlich seien es gewiss nicht weniger geworden. Vorgetragen im Ton einer Mängelrüge, wird die Botschaft gesendet: Sehr viel besser wäre es, wäre es anders, hätten wir es mit klar definierten Begriffen zu tun, deren Sinn feststeht, von allen so und nicht anders verstanden wird.

Nun sind Definitionen nur Grenzziehungen, keine Erklärungen. Die Kenntnis, wie groß ein Grundstück ist, informiert nicht über dessen Beschaffenheit und Lage. Trotzdem ist es natürlich nützlich zu wissen, wo es anfängt und wo es aufhört. Bei Grundstücken ist das leichter als bei Begriffen, weil diese nur im Medium Sinn erfasst werden können. Weshalb ist der Befund Definitionswirrwarr in der Regel zutreffend, aber die Klage darüber  absurd?

Andernorts feiern wir Differenzierungen als Reichtum, loben Hybrid-Plattformen und benutzen Dekontextualisierung als Zauberwort. Sobald wir uns aber an einen wissenschaftlichen Text machen, fürchten wir die Vielfalt der Deutungen, es wird uns zu bunt. Wissenschaftliche Kommunikation hätten wir gerne einfarbig und eintönig. Um anschließend über Langeweile zu klagen?

Der Ruf nach Eindeutigkeit kommt der Forderung gleich, die Zeichen eines Begriffs, etwa die acht Buchstaben, die im Deutschen „Freiheit“, oder die Laute, die „Management“ bezeichnen, sollten Signale sein wie das Rot einer Verkehrsampel, das den einzigen Sinn aktualisiert: stehen bleiben. Wer etwas anderes darunter versteht, muss bestraft, und im Fall fortgesetzten Missverstehens aus dem Verkehr gezogen werden. Übertragen auf die Sprache hätte es die Konsequenz, dass jeder Begriff als eine Art Sinngefängnis gebaut wird, in dem eine und nur eine Bedeutung eingekerkert ist; wer sie befreit oder eine andere hineinlässt, wird aus dem Kommunikationszusammenhang ausgeschlossen. Strenge Religionen, die nach der Devise selig werden, du sollst keine Bedeutungen neben unseren kennen, verhalten sich entsprechend.

Dass die Sprache und auch die Dinge, selbst wenn diese nicht besprochen, sondern nur wahrgenommen werden, in einem gewissen Sinn verstanden werden, der Nachvollziehbarkeit und damit Anschlussfähigkeit erlaubt, das stellt die Kultur sicher – ein ‚schrecklich’ polysemantisches Wort. Kultur steckt die Sinnhorizonte ab, in welchen sich soziale Ordnung etabliert. Sie umfasst, was sich im jeweiligen Kulturkreis von selbst versteht, bis ein Störenfried auftaucht, der es anders versteht. Es geht also nicht ohne Sinngrenzen, aber Sinngefängnisse sind nicht die Lösung.

Einerseits erscheint es für das gesellschaftliche Zusammenleben als große Erleichterung, wären die in der Kommunikation verwendeten Zeichen für alle in jeder Situation eindeutig. Und die Alltagssprache sorgt auch dafür, dass eine Art Grundverständnis für regelmäßig benutzte Wörter sich durchsetzt, so etwas wie der Schattenriss einer Bedeutung, der erkennen lässt, dass ein Haus kein Baum ist und man sich trotzdem unter einem Baumhaus etwas vorstellen kann. Andererseits wäre es eine dramatische Verengung der Möglichkeiten, das Geschehen in der Welt zu verstehen, gäbe es für Jedes und Jeden nur eine gültige Bedeutung. Wäre Eindeutigkeit zwischen Absender und Rezipienten Bedingung der Möglichkeit für Anschlusskommunikation, könnten nur Gleichgesinnte miteinander kommunizieren, Missverständnisse müssten zum Abbruch der Kommunikation führen, Differenzen mündeten schnell in Handgreiflichkeiten. Anders als es der Alltagswunsch nach klaren und eindeutigen Begriffen annimmt, liegt darin nicht nur eine Erleichterung im Einzelfall, sondern auch eine Behinderung im Normalfall kommunikativen Handelns.

Die Möglichkeit, Zeichen so oder auch anders zu verstehen, einen weiteren Sinnhorizont aufzuspannen, führt zwar zu Missverständnissen, aber über die kann man jetzt reden, weil nicht jede Abweichung sofort als Unsinn diskreditiert wird. Die schöne Freiheit, sich ein eigenes Verständnis erarbeiten, ein Stück Eigensinn entwickeln zu können, gehört zur Individualisierung wie die Vielfalt zur Natur. Für die Kommunikation und deren Fortsetzbarkeit ist die Pluralität des Sinns eine Lösung, denn die Autonomie des Verstehens erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass es (irgendwie) weitergeht. Sobald akzeptiert ist, dass Andere Dasselbe anders verstehen, kann man sich verständigen.

Dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über Bedeutungsvielfalt klagen, mutet allerdings besonders merkwürdig an. Auch wissenschaftliche Zugriffe auf ein Thema können nur Beobachtungen sein; methodische Strenge und theoretisch ausgewiesene Verortung ändern das nicht, sie machen im Gegenteil die Beobachtungsleistung genauer nachvollziehbar und damit besser kritisierbar. Wie niemand sonst zielen wissenschaftliche Beobachter darauf, an ihrem Gegenstand etwas anderes zu beobachten, ihn anders zu beschreiben, denn nur darin kann die Erkenntnis, das neue Wissen liegen. Sich in das Sinngefängnis einer vorgegeben Definition zu begeben, schränkt die Möglichkeiten ein, neue Perspektiven zu eröffnen, neue Einsichten zu gewinnen. Das heißt, dieselbe Wissenschaft, die alles daran setzt, immer wieder andere Bestimmungen beispielsweise der Gerechtigkeit, des Managements, des Journalismus zu erforschen, beschwert sich gleichzeitig darüber, dass es so viele verschiedene Freiheits-, Management- und Journalismusdefinitionen gibt.

Pluraler Sinn ist kein Freischein für X-Beliebigkeit, im Alltag nicht und in der Wissenschaft erst recht nicht, denn die Arbeit am Begriff ist ein zentrales Moment wissenschaftlicher Wahrheitssuche. Aber die aufgeklärte Wissenschaft weiß, dass ihre gerade gültige Wahrheit gestern eine andere war und morgen überholt sein wird. Zudem ist sie sich unter modernen Bedingungen im Klaren darüber, dass Wirtschaft, Politik, Massenmedien, Kunst etc. ihre eigenen Wirklichkeiten haben, dass wir es, wie Soziologen sagen, mit multiperspektivischen und polykontexturalen Verhältnissen zu tun haben. Je mehr sich eine Gesellschaft oder auch nur eine Organisation ausdifferenziert, desto wahrscheinlicher werden unterschiedliche Informationslagen und daraus resultierende abweichende Deutungen.

Diese Spannung auszuhalten, darauf kommt es an: Sowohl mit Sorgfalt und Ausdauer an der Semantik der zentralen Begriffe eines Themas zu arbeiten, als auch anzuerkennen, dass ein gutes Ergebnis trotzdem eine unverbindliche Verbindlichkeit bleibt. Die nächste wissenschaftliche Arbeit zum gleichen Thema wird wieder mit dem Lamento beginnen, es fehle an eindeutigen Begrifflichkeiten. Aber irgendwann wird sich die Erfahrung durchsetzen, dass es besser so ist, dass es zwar semantischer Grenzen, aber keiner Gefängnisse bedarf.

 

Berichterstattung, objektive

Eine objektive Berichterstattung der Medien klagt gerne ein, wer in der öffentlichen Darstellung gerade schlecht wegkommt. Als Anspruch steht Objektivität auch in journalistischen Berufs-Richtlinien und Ethik-Kodices weit oben. „Eine Grundbedingung für eine demokratische Gesellschaft ist objektive Berichterstattung“, kann man in Unterrichtsmaterialien lesen.

Hier wird, typisch für Werte, eine Messlatte gelegt, die nur dann nicht gerissen wird, wenn alle darunter wegtauchen. Weil der Erwartung ‚Objektivität’ niemand gerecht werden kann, haben diejenigen leichteres Spiel, die gar nicht erst den Versuch sachgerechter Darstellungen machen: Wenn jeder subjektiv-gefärbt berichtet, dann ist ein bisschen mehr Manipulation auch egal, dann kommt es auf den Unterschied zwischen X und Y nicht an, weil beider Abstand zu A so groß ist.

Der Wert ‚objektive Berichterstattung‘ wendet sich, wie viele prominente Werte der modernen Gesellschaft, gegen die schlechte alte Zeit feudaler Verhältnisse. Als die Öffentlichkeit fest in der Faust der Herrschenden, der Kirche und des Adels war, kam keiner auf die Idee, die öffentliche Kommunikation könnte objektiv sein. Gegen solche Zustände ist Zweierlei geschehen: Die Meinungsfreiheit und ihre schöne Tochter, die Pressefreiheit, wurden durchgesetzt. „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ So steht es im Artikel fünf des deutschen Grundgesetzes.

Eine prächtige Lösung – mit ein paar Folgeproblemen: Wenn alle reden dürfen, muss niemand zuhören. Wenn jeder nur seine Meinung sagt, woher sollen dann verbindliche und verlässliche Informationen kommen? Wenn wirklich jeder, auch Hinz und Kunz ihre Meinung öffentlich verbreiten, muss dann nicht damit gerechnet werden, dass viel Lärm auf niedrigem Niveau entsteht? Das Oberlehrer-Lamento über Massenkultur kennt man. Um den Einzelnen tatsächlich eine öffentlich wahrnehmbare Stimme zu geben, fehlen nach 1789 rund 200 Jahre lang die technischen Voraussetzungen. (Die Digitalisierung ändert das, es ist spannend geworden). Die Bürger und Bürgerinnen bekommen – nach und nach, nicht ohne blutige Konflikte – ihre Wählerstimme und, ziemlich ungerecht verteilt, ihre Kaufkraft. Pressefreiheit jedoch und damit die Frage objektiver Berichterstattung konzentriert sich auf den Berufsstand des Journalismus sowie die Verlage und Sender, welche über Massenmedien verfügen.

Um zu erklären, warum es mit der Objektivität in den Print- und Funkmedien nicht klappt, setzen sich zwei Deutungsmuster durch. In einem Fall sind die Journalisten, Verlage und Sender die Täter. Nicht zwingend alle gleichzeitig, stärker ins Visier geraten die Entscheider, die Eigentümer sowie das verlegerische und redaktionelle Management. Der einzelne Journalist hingegen kann durchaus zum Helden avancieren, der objektive – in diesem Kontext dann meist verstanden als kritische, investigative – Arbeit leistet oder wenigstens leisten würde, wenn man ihn ließe. Verhindert werde die Objektivität beispielsweise, weil Verlage und Sender ihre eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen favorisieren, aber auch weil Journalisten als Gatekeeper eine Oberschichten-Sozialisation haben bzw. umgekehrt missionarischen Eifer für Unterprivilegierte und Entrechtete an den Tag legen.

Im anderen Fall sind es vor allem der Staat, die Politik und die Wirtschaft, jedenfalls Einflüsse von außen, welche die Verlage und Sender unter Druck setzen. Die Täter sitzen nach dieser Deutung außerhalb des Mediensystems, das seine Selbstdarstellung als Hüter der Demokratie pflegen darf wie etwa im Fall des schließlich zurückgetretenen Bundespräsidenten Christian Wulff.

Die Gemengelage ist also durchaus vielschichtig, im Kern geht es um die Unabhängigkeit und Überparteilichkeit öffentlicher Informationen. Das ist die realistische Problemstellung, die vom Begriff der Objektivität überlagert und in eine irreführende, erkenntnistheoretische Richtung abgelenkt wird. In der Erkenntnistheorie darf der Anspruch der Objektivität als erledigt gelten. Das Argument, dass es kein Erkennen irgendeines Objektes geben kann ohne einen Erkennenden, also ohne einen sogenannten Beobachter, klingt plausibel. Sich auf Objektivität zu berufen, kommt deshalb dem Versuch gleich, sich als Erkennender aus der Verantwortung zu stehlen für das, was als Erkenntnis verkündet wird. „Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beobachtungen könnten ohne Beobachter gemacht werden. Die Berufung auf Objektivität ist die Verweigerung der Verantwortung – daher ihre Beliebtheit“, sagt Heinz von Förster (2004).

Wer immer etwas mitteilt, egal ob öffentlich oder intern, kann nur aus dem Reservoir der Informationen schöpfen, über die er verfügt. Was ich nicht weiß, macht mich nicht nur nicht heiß, ich kann auch nicht darüber reden, nicht einmal daran denken. Wie kommt mensch an Informationen? Wie auch immer, jedenfalls nur auf der Basis, nur in dem Horizont der Informationen, die er/sie schon hat. Diese Basis, dieser Horizont verändert sich ständig, verengt sich durch Vergessen, erweitert sich durch Lernen, aber jede Veränderung passiert auf dem jeweiligen status quo. Jedermanns Anschlussfähigkeit für Informationen ist selektiv – ein neuerlicher Hinweis auf den Unsinn der Objektivität. Wenn schon die Informationsbasis nichts mit Objektivität zu tun hat, wie wenig dann erst die Mitteilung, die zur Veröffentlichung ausgewählt wird. Von der Präsentation der Mitteilung ganz zu schweigen, in die individuelle Selektionsentscheidungen der Journalisten, organisationale Vorgaben der Redaktion und des Verlages, Vorab-Selektionsentscheidungen von Nachrichtenagenturen eingehen.

Haken wir Objektivität ab, weil sie vom Kern, von der Frage der Unabhängigkeit, ablenkt. Was Journalismus von anderen Veröffentlichungen, etwa der Werbung, der PR, der Unterhaltung, unterscheidet, ist die Funktion, das Publikum über das Neue und Wichtige in möglichst richtiger Weise aktuell zu informieren. Seine Auswahlkriterien dafür, welche Themen er wie aufgreift und darstellt, sollen gerade nicht von Einzelinteressen geleitet sein, sondern sich an einem – im konkreten Fall stets uneindeutigen, umstrittenen – allgemeinen Interesse orientieren; weniger im emphatischen Sinn des Allgemeinwohls (volonté générale), für das die Politik Zuständigkeit reklamiert, mehr im Sinn eines Interesses der Vielen (volonté de tous). Das Kriterium der Richtigkeit will nicht auf wissenschaftliche Wahrheit hinaus, wendet sich aber gegen Spekulationen, Gerüchte, Vermutungen. Ein im Einzelnen schwer definierbarer Aufwand an Sorgfalt, Kontrolle, Gegenrecherche wird damit angemahnt, der zu einer möglichst sachgerechten Darstellung befähigen soll. Die Grenzen sind fließend, aber nicht verschwindend. Der zeitgenössische Trend, sie verschwinden zu lassen, hat kein brauchbares Alibi.

Zeitdiagnostisch kann man durchaus zu der Einschätzung kommen, dass sich innerhalb und außerhalb des Mediensystems die Voraussetzungen für den professionellen Journalismus verschlechtert haben, seine Aufgabe zu erfüllen, über wichtiges Neues richtig zu informieren. Innerhalb, weil die Ökonomisierung vieler Verlage und Sender überhand nimmt. Am Ende geht es wie bei Google primär darum, mit welchen Mittel auch immer Publikum an Land zu ziehen, dessen Aufmerksamkeit sich an die Werbung verkaufen lässt. Außerhalb, weil es für Personen und ihre Leistungen, für Organisationen und ihre Produkte immer wichtiger wird, öffentlich bekannt und anerkannt zu sein. Dafür ist (möglichst positive) Medienpräsenz unerlässlich, so dass der PR-Druck auf die Redaktionen steigt und steigt.

Bernhard Pörsken (2012) könnte recht haben, wenn er sagt: „Journalismus ist im Grunde genommen ein unmöglicher Beruf, von unauflösbaren Widersprüchen gekennzeichnet: Man soll aufklären und Geld verdienen, der Wahrheit verpflichtet Profite für den eigenen Verlag erwirtschaften, die Gesellschaft orientieren, unter Hochgeschwindigkeit objektive Erkenntnisse produzieren und die Welt, zu der man gehört, vollkommen unabhängig und wie von außen beobachten.“

 

Förster, H. v./Pörsken, B. (2004): Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, Heidelberg: Carl Auer

Pörsken, B. (2012): Die Ideologie der Reinheit. Interview in brand eins, 09/2012, http://www.brandeins.de/magazin/interessen/die-ideologie-der-reinheit.html