Realität und Möglichkeit
Von vielen anderen Möglichkeiten umringt, riskiert Realität, zur schlechteren Alternative zu werden. Aber sie kann auch zur schönsten und besten gekürt werden, der gegenüber sonstige Möglichkeiten entweder kein Fortschritt oder unrealistisch sind. Ohne Möglichkeiten wird Realität zu einem Gefängnis, einer Art Hochsicherheitstrakt, in dem auch Aussichtslosigkeit den Gedanken auszubrechen nicht vertreibt. Eines geht immer: Dem Realen einen anderen Sinn zu geben. Halb voll oder halb leer, Eule oder Nachtigall.
Die Wirklichkeit einer Person, einer Organisation oder einer Gesellschaft kann sich vorrangig an Realitäten ausrichten, phantasielose Realisten hier, oder stärker an Möglichkeiten, realitätsferne Träumer dort. Als Wirklichkeit bezeichnen wir die Summe aus Realem und Möglichem, das Mögliche differenzieren wir in Virtualität und Fiktionalität. Im Vergleich zwischen modernen Gesellschaften und feudalen oder archaischen gelten die modernen als möglichkeitsorientiert; dass es auch besser, schneller, billiger, gerechter, jedenfalls anders machbar wäre, erscheint in der Moderne eine prinzipiell sinnvolle Überlegung. Mehr noch. Diese Überlegung wird nachgerade zur generellen Anforderung. Das Reale, das gegenwärtig Erreichte sieht sich unablässig mit der Frage konfrontiert, ob es nicht auch anders, und gemeint ist: besser, ginge. Oft unterbelichtet, manchmal sogar ausgeblendet bleibt dabei das Problem, dass für andere schlechter sein kann, was für die einen besser ist. Dem Fortschritt, so lautet ein modernes Credo, muss man sich beugen.
Das Eine und das Andere
Egal ob Realität das Eine und Möglichkeit das Andere ist oder ob es sich um die eine und eine andere Realität, um die eine und eine andere Möglichkeit dreht. Wie die Differenz bestimmt, wie die Grenze gezogen wird – das ist die Frage aller Fragen: Wie wird gesehen und behandelt, was vor der Grenze und was hinter der Grenze ist? Wie wird mit dem Unterschied zwischen dem Einen und dem Anderen umgegangen? Sage mir, welche Unterschiede du machst, und ich sage dir, wer du bist.
Die Hebamme des Anderen ist die Unterscheidung. Sie fügt dem Einen das Andere hinzu, macht es dadurch erst als das Eine erkennbar, degradiert es damit aber zugleich zu Einem unter Anderen: So und anders sagt der Unterschied. So aber anders sagt der Vergleich. So oder anders sagt die Entscheidung. Lediglich die Einheit sagt: So und nicht anders. In einer Welt, in der alles so und nicht anders ist, braucht man alles nur einmal zu lernen. Dann weißte Bescheid. Das ist die Idee der angewandten Wissenschaften. Studium als Gebrauchsanweisung. Allerdings ist die Auflösung von Einheiten in Differenzen ist ein weiteres Merkmal der Moderne. Sie ist zugleich eine Einladung zu lebenslangem Lernen.
Sinn als Aktualität und Potentialität
Die Zweifel daran, dass es mit „so und nicht anders“ getan sei, sind uralt. Platons Höhlengleichnis beruhigt uns mit der Unterscheidung zwischen dem Schatten und der unwandelbaren Idee, Hegel und Marx helfen sich mit der Differenz zwischen Erscheinung und Wesen. Der Konstruktivismus hingegen schlägt vor, uns damit abzufinden, dass dem Menschen ein beobachterunabhängiges „So ist es“ nicht zur Verfügung steht. Diese Aussage ist natürlich selbst ein „So ist es“, aber eben eines, das von vorneherein einräumt, dass es ein konstruiertes ist.
Den Grundstoff, aus dem Wirklichkeitskonstruktionen hergestellt werden, kann man mit Niklas Luhmann als Sinn bezeichnen. „Sinn ist die Ordnungsform menschlichen Erlebens, die Form der Prämissen für Informationsaufnahme und bewußte Erlebnisverarbeitung […]“ (Luhmann 1971, S. 61). So verstanden, ist Sinn ein Medium, das jederzeit, überall und von jedem gebraucht wird. Sinn dient als Medium aller Medien. In der Wahrnehmung kooperieren Sinne und Sinn. Was ich sehe, höre, fühle, schmecke, rieche, wird vom Bewusstsein mit irgendeinem Sinn ausgestattet. In der Kommunikation ist der Sinn allein zuhaus. Wir konzentrieren uns auf Kommunikation.
Ein einzelnes Objekt begegnet uns in jeder der drei Sinndimensionen. Zeitlich als vorher oder nachher. Sozial als Alter oder Ego. Sachlich als Dieses oder Jenes. Einige Autoren plädieren dafür, die Raumdimension, hier oder dort, als vierte Sinnebene zu behandeln. Ob zeitlich, sozial, sachlich oder räumlich, „die Funktion von Sinn ist die Anzeige von und die Kontrolle des Zugangs zu anderen Möglichkeiten“ Luhmann (1971, S. 68). Deshalb ist es unmöglich, die Möglichkeit auszuschließen, „bei einer (aktuellen) Sinnverwendung nicht an eine (potenziell) auch mögliche andere Sinnverwendung zu denken, sie zu unterstellen oder auch sie auszuprobieren“ (Baecker 2013, S. 256) Praktisch jedoch wird anderer Sinn ständig ausgeschlossen, weil andernfalls nicht gehandelt werden könnte.
Wenn wir jetzt zur Eingangsdifferenz von Realität und Möglichkeit zurückkehren, erkennen wir zum einen, warum Sinnverlust ein so dramatisches Thema der Moderne ist; und zum anderen, warum der Streit um Eindeutigkeiten so verbissen geführt wird.
Sobald Möglichkeiten als Alternativen zu Realitäten Anerkennung finden, öffnen sich die Sinnhorizonte und geben den Blick frei auf ein Panorama, an dessen Firmament „anything goes“ leuchtet. Der Sinn des Realen verändert sich, je nach dem im Lichte welcher Möglichkeiten es betrachtet wird. Eindeutigkeit droht verloren zu gehen, nur noch als bestreitbare Behauptung auftreten zu können. Nicht nur die Deutungen der Realitäten, sondern auch die Bedeutungen der Möglichkeiten verlangen jetzt Aufmerksamkeit. Die denkbaren Interpretationen potenzieren sich, weil aus jeder Beobachterperspektive ein anderer Sinn aktualisiert werden kann. Sinnspiele sind nicht nur das Lebenselexier moderner Kunst, sie breiten sich in alle Lebensbereiche hinein aus.
Der Einladung zu Sinnspielen steht allerdings ein praktischer Bedarf an Eindeutigkeiten gegenüber. Die Fragen, was es bedeutet, wenn dieses getan und jenes gelassen wird, ob man es jetzt oder später tun soll, ob man es selbst macht oder andere machen lässt, verlangen Antworten. Diese zu verweigern, führt zu Handlungsunfähigkeit. Handlungen beziehen ihren Sinn aus den Erwartungen, die mit ihnen verknüpft werden. In der Erwartung aktualisiert sich der Sinn des Handelns – der als Selektion, als eine auch anders zu treffende Auswahl transparent bleiben muss, wenn Erfolgspfade rechtzeitig als Sackgassen erkannt werden sollen. Sinnstiftung negiert andere Deutungen, aber sie zerstört die Alternativen nicht, sondern klammert sie temporär aus, um später an sie anzuknüpfen oder auch nicht. Luhmanns berühmter Zettelkasten ist dafür das beste Beispiel. Wissenschaft im Modus des kritischer Rationalismus negiert Erkenntnisse ein für alle Mal, um Neues an deren Stelle zu setzen. Die alten Zettel müssen sozusagen laufend vernichtet werden. Kluge Seeleute achten darauf, dass die Schiffe nicht zerstört werden, mit denen sie an neue Ufer gelangt sind.
www.sinnspiele.org will auf die Probleme einer Wissenschaftspraxis aufmerksam machen, die um ihrer Anerkennung (und Finanzierung) von Seiten der Entscheidungsfunktionäre in Wirtschaft und Politik willen Eindeutigkeiten als Wahrheiten anpreist, wo sie auf Ambivalenzen, funktionale Alternativen und pluralen Sinn aufmerksam machen müsste.
Literatur
Baecker, D. (2013): Beobachter unter sich. Berlin: Suhrkamp
Luhmann, N. (1971): Sinn als Grundbegriff der Soziologie. In J. Habermas und N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. S. 25-100, Frankfurt/M: Suhrkamp